Montag, 18. Juli 2016

Leese, Kampfstoff-Fabrik

























In Leese bei Stolzenau an der Weser befindet sich in einem Waldstück eine ehemalige Kampfstoff-Fabrik aus dem Zweiten Weltkrieg. Offizieller Eigentümer oder Betreiber war eine Firma namens "Orgacid". Diese verpachtete das Gelände an die Chemie-Firmen "Riedel de Haen" und die "Lonal Werke AG, Berlin". Die Firmen sollten Zwischenprodukte für chemische Kampfstoffe für die Deutsche Wehrmacht herstellen. Der Bau der Anlagen zog sich von 1937 bis 1943 hin. Die Anlage verfügte über 70 Gebäude, einen Eisenbahnanschluß an die Strecke Nienburg-Minden, ein eigenes Kraftwerk und autarke Wasserversorgung mit eigenem Wasserwerk. "Riedel de Haen" produzierte in Leese neben einem Grundstoff für Tränengas vor allem Sauerstoff, der zum Teil zu Raketentreibstoff verarbeitet wurde. Die "Lonal Werke" sollten in Leese ein Vorprodukt zur Herstellung des kältebeständigen Kampfgases "Winter-Lost" produzieren. Doch dazu kam es vor Kriegsende wahrscheinlich nicht mehr. Allenfalls die Produktion geringer Mengen im Rahmen eines Probebetriebes werden vermutet. Nach der Besetzung der Anlage durch britische Truppen im April 1945 produzierten diese dort bis 1948 weiterhin Sauerstoff und andere Industriegase für den eigenen Bedarf. Danach wurde die Fabrik demontiert und viele Bunker gesprengt. 1951 übernahm die deutsche IVG das Gelände mit der ehemaligen Fabrik. Von 1964 bis 1996 betrieb die Bundeswehr dort das dem Munitionsdepot Liebenau unterstellte Korps-Depot 152 sowie eine Truppenunterkunft vermutlich für das Nachschub-Ausbildungszentrum Leese. Im Jahre 2000 kaufte die "Raiffeisen Warengenossenschaft e.G." das gesamte, von der Bundeswehr nach der "Wende" geräumte Gelände mit allen Bauten und nutzt diese zum Teil als Lagerräume bzw. vermietet Bauten an andere Nutzer. Später kam noch ein sogenannter "Wertstoffhof" hinzu. 



Das erste Foto ganz oben zeigt eine ehemalige Truppenunterkunft im norwestlichen Teil des Geländes nahe dem Haupttor. Dem Baustil nach zu urteilen stammt das Gebäude noch aus der NS-Zeit und könnte ursprünglich von den Wachmannschaften belegt gewesen sein. Das zweite Foto entstand am Haupttor, das heute von der Raiffeisengenossenschaft genutzt wird. Das Gelände kann ohne Genehmigung nicht betreten werden. Die Einfahrt ist sehr stark gesichert; wären die Tore nicht grün sondern grau gestrichen, könnte man fast meinen, es handele sich um einen kleinen Grenzübergang zur DDR. Die starke Sicherung hängt vermutlich damit zusammen, daß auf dem Gelände auch schwach radioaktive Abfälle aus Medizin und Forschung gelagert werden. Das dritte Bild entstand in dem kleinen, einzigen öffentlich zugänglichen Bereich der Anlage, einem Paintball-Spielfeld. Hier kann man eines der ehemaligen Produktionsgebäude der Kampfstoff-Fabrik sehen. Der Baustil mit der Dachtarnung erinnert an Bauten der "Eibia" in Barme und in Liebenau. Das vierte Foto zeigt ein Betriebsgebäude, das ich mit starkem Zoom durch die Maschen des Zaunes aufgenommen habe.

Die ersten beiden Bilder unterhalb dieses Textblocks zeigen die Brückenköpfe der demontierten Brücke über die Bundesstraße 215 des stillgelegten Eisenbahn-Anschlusses. Das Anschlußgleis an die Kampfstoff-Fabrik wurde 1938 in Betrieb genommen. Die Brückenköpfe wurden nicht einfach aus Beton gegossen, sondern im typischen NS-Stil aus klobigen Natursteinen gemauert. Das dritte Bild unterhalb dieses Textblocks zeigt einen alten Wegweiser im Art-Deco-Stil der 1920er Jahre. Im Hintergrund ist die Eisenbahnbrücke der Strecke Nienburg-Minden über die Bundesstraße 215/441 zu sehen. Es folgen zwei Bilder vom Bahnhof Leese-Stolzenau. Die 1921 erbaute Eisenbahnstrecke Nienburg-Minden ist eine eingleisige, aber elektrifizierte Nebenbahn, die ihre Hauptbedeutung im Güterverkehr hat. Sie hat noch heute (2016) die alte Sicherungstechnik mit mechanischen Flügelsignalen. Zwischen Nienburg und Minden halten Personenzüge nur noch in Leese-Stolzenau und in Petershagen-Lahde. Alle anderen Bahnhöfe sind geschlossen.




























Unmittelbar westlich des Geländes der ehemaligen Kampfstoff-Fabrik verläuft parallel die alte NATO-Pipeline, zu erkennen an den charakteristischen weiß/orange gestreiften Markierungspfählen. Das Foto (unten) habe ich neben der ehemaligen Trasse der Anschlußbahn an das Gelände gemacht. Daß diese Leitung gerade hier verläuft hat aber nichts mit dem ehemaligen Bundeswehrstandort zu tun, sondern ist reiner Zufall. Es handelt sich um die "Fernleitung 10" Bramsche-Hodenhagen. Sie hat einen Anschluß an das IVG-Tanklager Nienburg-Schäferhof. Die NATO-Pipelines sind ein in den 1960er und 70er Jahren aufgebautes, unterirdisches militärisches Leitungsnetz in Westeuropa zur Verbindung der militärischen Tanklager untereinander und zur Versorgung der in Europa kämpfenden Luft- und Bodentruppen mit Treibstoff. Das Leitungsnetz wird zivil mitgenutzt. Die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" meldete am 10.09.2014, daß die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben sowohl das versteckte und getarnte Tanklager in Hademstorf (bei Hodenhagen) als auch die gesamte Fernleitung Bramsche-Hodenhagen zum Verkauf anbietet. Das Tanklager Nienburg-Schäferhof wurde bereits 2007 an einen rein zivilen Nutzer verkauft, der es zur Lagerung von Bio-Kraftstoffen nutzt. Die Bundeswehr benötigt seit ihrer Umstrukturierung die Leitung und die Tanklager nicht mehr.   












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